Nachtgedanken

von 11.07.20210 Kommentare

Letzte Woche war ich einer spontanen Einladung eines Freundes in Frankfurt gefolgt. Weniger spontan prüfte ich zuvor meine Rückfahrtoptionen nach Eschenhahn und stellte fest, dass sich seit meinem letzten abendlichen Frankfurt-Abenteuer, das schon ein paar Jahre zurückliegt, eine Menge zurückentwickelt hat. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, dass die legendäre Linie 271, die Idstein mit Wiesbaden verbindet, einst eine pulsierende Hauptschlagader auch für Eschenhahn gewesen ist, gerade in den Nachtstunden – und ich schreibe bewusst: Nacht- und nicht Abendstunden. Besonders im Sommer, wenn man nach dem Open-Air-Kino auf den Wiesbadener Reisinger-Anlagen noch einen Manhattan Ice Tea trinken konnte, weil man wusste, um 2 Uhr fährt schon wieder der nächste Bus.

Zwei Jahre – und eine Corona-Pandemie später scheint sich der ÖPNV noch nicht von den nächtlichen Ausgangssperren erholt zu haben, denn ich stellte mit Erschrecken fest, dass der letzte 271er Bus den Bahnhof Idstein um 22:09 Uhr Richtung Eschenhahn verlässt. Wer den verpasst, kann die nächste Verbindung um 04:09 Uhr nehmen – immerhin gibt es dort jetzt eine Überdachung und schöne Holzbänke. Übrigens nehme ich ein Taxi nur in Notfällen, eine missglückte Verkehrsplanung zähle ich noch nicht dazu.

“Sorry, ich muss schon kurz nach Acht gehen, sonst kriege ich meinen Bus nach Eschenhahn nicht”, lautete der Satz, den ich natürlich nie sagte, weshalb ich kurz vor Mitternacht immer noch in der Frankfurter Innenstadt weilte, ein Glas Sekt in der Hand, wenn auch nicht wirklich in Champagnerlaune, wenn ich an meine Heimreise dachte. Den Sekt erwähne ich übrigens nur, weil damit eine selbstmotorisierte Abreise automatisch als Option ausgefallen war, mal abgesehen davon, dass es mir an einem fahrbaren Untersatz ohnehin gänzlich mangelt. Ein Scherzkeks meinte sogar, ich solle meine Frau anrufen, damit sie mich abholt.

Sieben Minuten nach Eins erreichte der Zug Idstein – über die Bahnverbindung kann ich wahrlich nicht klagen. Überraschenderweise standen auch keine Taxis dort, dies aber nur als Randnotiz. Dann lief ich zunächst durch den Tunnel auf die andere Seite, vorbei am schön illuminierten Autohaus Gärth zum Aldi-Kreisel und dann vorbei an OBI und dem neuen Fitness-Center durchs Gewerbegebiet, vorbei an endlos aufgereihten LKW’s mit abgeklebten und abgedeckten Führerhäusern. Die darin schlafenden Fahrer beneidete ich wahrlich nicht, denn mein Zuhause war nur noch ein paar Kilometer entfernt. Zu erreichen allerdings nur über die Bundesstraße B275 – weiter oben im Text von mir noch als Hauptschlagader gerühmt; wenn man jedoch kurz vor halb zwei in Höhe Autoschmitt davorsteht und diese überquert, pulsiert die eigene Schlagader doch erheblich.

Weniger pulsierend war der Verkehr. Bis zur Autobahnabfahrt gab es noch einige Fahrzeuge, die an mir vorbeifuhren, ab der Autobahnbrücke, wenn das Rauschen nach der ersten Kurve aufhörte, war es dann jedoch tatsächlich so still, wie sich jeder Eschenhahner die B275 auch tagsüber wünschen würde. Auf der Strecke bis Ortseingang überholten mich gerade mal zwei Autos. Für deren Vorbeifahren ohne anzuhalten habe ich übrigens vollstes Verständnis, denn die Autos machen mir keine Angst, wohl aber würde ich es als Fahrer unheimlich finden, nachts um viertel vor 2 eine Person am Straßenrand zu erblicken; das gebe ich offen zu und ich würde wahrscheinlich auch selbst nicht anhalten.

Hinter dem Ehrenbacher Abzweig ergriff ich die rare Gelegenheit, mit meiner Handy-Lampe einen Blick auf die Plakette zu werfen, die dort in den Fels geschraubt ist. Ich dachte nämlich immer, dort würde ein Hinweis auf den legendären Eschenhahner Separatistenfelsen zu lesen sein. Stattdessen steht dort lediglich: “Diese Straße wurde erbaut 1847 – 1851”. Eine herbe Enttäuschung, zudem stellte ich fest, dass sich die Stracke von dort bis zum Ortseingangsschild noch ordentlich zieht. Ich erreichte das Ziel gegen viertel nach zwei. Also eine gute Stunde Fußmarsch, und das strammen Schrittes und nur sehr weniger Pausen.

Keineswegs ist dies ein Grund zur Klage, die zuvor zusammen mit dem Sekt konsumierte Thunfischpizza war so sicher wieder gut abtrainiert worden. Allerdings denke ich auch, als Frau hätte ich diesen Weg sicher nicht gewagt. Und daher muss ich schon sagen, dass es allein aus diesem Grund nicht in Ordnung ist, zwischen 22:09 und 04:09 den öffentlichen Nahverkehr komplett einzustellen. Zweitens ist es aus dem Grund nicht in Ordnung weil der Verkehrsentwicklungsplan Idstein 2035 etwas ganz anderes vorsieht, nämlich die “Sicherung eines attraktiven Angebotes für die Mobilität aller Bürgerinnen und Bürger”. Na gut, bis 2035 ist noch ein wenig Zeit.

Und hat nicht Goethe, der vor 200 Jahren ähnlich unkomfortabel wie ich in Deutschland unterwegs war, gesagt: “Die Reise gleicht einem Spiel; es ist immer Gewinn und Verlust dabei und meist von der unerwarteten Seite”.